Beim Lesen von gerade erschienen Blogeinträgen von Bob Blume und  Philipp Wampfler zur Frage danach, ob wir Digitalisierung in der Schule brauchen, ist mir aufgefallen, dass mir Digitalisierung genau genommen völlig egal ist, wenn auch unverzichtbar. Es geht um etwas ganz anderes.

Liest man im Standardwerk für die Lehrerausbildung „Leitfaden Schulpraxis“ nach, was beim Lernen denn eigentlich passiert, dann

„nimmt – allgemein gesprochen – eine Schülerin/ein Schüler Umwelterfahrungen auf, die er/sie verarbeitet und aktiv in die Struktur des bereits bestehenden Wissen eingliedert, mit dem Ziel, auf dies neuen Erkenntnisse zu einem späteren Zeitpunkt zurückgreifen zu können.“ (Bovet/Huwendiek, S. 170)

Es geht also beim Lernen um die wie auch immer geartete Speicherung von Umwelterfahrungen.

Das geht vor allem und am unmittelbarsten, wenn man gerade in der zu erfahrenden Umwelt unterwegs ist, sei es das Pferd im Stall, über das ich dort lernen kann, sei es die Wüste, in der ich unterwegs bin, sei es das Freilichtmuseum. Ich lerne!

In der Schule ist das mit der Unmittelbarkeit aber so eine Sache. Da gibt es vielleicht lebende Fische im Aquarium, ausgestopfte Modelle von Steinmardern (gibt’s die noch?), große Wandkarten mit detailgetreuen Abbildungen des Igels. Vielleicht auch Filme über das Pferd oder die Wüste. Außerdem informieren natürlich Schulbücher und Arbeitsblätter die interessierten Schülerinnen und Schüler über dies oder jenes, was es zu lernen gilt.

 „Wo [eine direkte Umwelterfahrung] nicht möglich ist, müssen Mittler (lat. Media) […] eingesetzt werden. Man kann also in einer allgemeinen Definition sagen, dass der Begriff Unterrichtsmedien all diejenigen Hilfsmittel bezeichnet, die als Erfahrungsersatz oder als Stellvertreter für die Wirklichkeit im Klassenraum zum Einsatz kommen.“ (Bovet/Huwendiek, S. 170).

Daraus lese ich, dass es eigentlich beim Lernen um Umwelterfahrung geht, die wir als Unterrichtende aber häufig über Medien vermitteln, um den Schülern einen „Erfahrungsersatz“ zu ermöglichen, und sei es nur, dass wir statt ins Theater zu gehen, den Faust von den Schülerinnen und Schülern im Stillen lesen lassen.

Besser wäre also, wenn alle Schülerinnen und Schüler die Umwelterfahrung selbst machen. So wird es im Jahr 2064 in Deutschland sein, wenn man Martin Walker und seinen gut fundierten Schilderungen im Roman „Germany 2064“ glauben will:

„Aus Bildungsreformen waren Schulen hervorgegangen, von denen Klaus als Kind nur hätte träumen können. Jeder Schüler lernte heute ein Musikinstrument spielen und Noten lesen. An jeder Schule gab es Musiklehrer, einen Chor und Theaterpädagogen, die mit jeder Klasse einmal im Jahr ein Stück auf die Bühne brachten. Jede Schule hatte ihre eigene Küche, in der Jungen und Mädchen kochen lernten und über gesunde Ernährung aufgeklärt wurden. […] Alle Eltern freuten sich […] auf das inzwischen traditionelle Fest zum Schuljahresende, bei dem die Schüler ihre Eltern und Lehrer mit einem Drei-Gänge-Menü bewirteten. […] Es gab Werkstätten an Schulen, in denen Mädchen und Jungen lernten, Holz und Metall zu bearbeiten, Fahrräder zu reparieren und Wände aus Ziegelstein zu errichten. Im Physiklabor löteten und überprüften die Schüler elektrische Schaltkreise; sie probierten sich an Computerprogrammen aus und bauten Radioempfänger zusammen. Zur Standardausstattung zählte auch ein Schulgarten samt Gewächshaus, in dem die Schüler das Gemüse und die Kräuter anbauten, die später in der Küche verarbeitet wurden. Aus den Früchten der Streuobstwiese pressten sie köstliche Säfte. Im Hühnergehege und im Schweinestall lernten die Kinder den Umgang mit Tieren, an die sie Tag für Tag jeweils geeignete Essenreste aus der Küche verfütterten. Die Eltern wurden ermuntert, sich nach Belieben am Schulleben zu beteiligen. Klaus lud zum Beispiel jedes Jahr eine Abschlussklasse zu sich auf den Weinberg ein. Die Schüler halfen bei der Weinlese und er zeigen ihnen, wie die Trauben zu Maische verarbeitet wurden und die Rückstände vom Most getrennt wurden. […] Jedes Jahr im April veranstalten die Schulen einwöchige Klassenfahrten. […] In ganz Deutschland traf man Schüler an, die täglich zehn bis fünfzehn Kolieret über Land wanderten. Sie lernen, Karten zu lesen, ihre Zelte aufzubauen, Latrinen auszuheben, sich selbst mit Trink- und Waschwasser zu versorgen und ihr Essen zuzubereiten.“ (S. 307-309).

In diesen Schulen geht es vor allem um „Umwelterfahrung“, offenbar fast ohne „Erfahrungsersatz“; Medien im oben genannten Wortsinn werden hier so gut wie überflüssig, stattdessen geht es um die Erfahrung von Wirklichkeit, auch von digitaler übrigens.

Aber soweit sind wir 2016 (noch) nicht, auch wenn außerschulische Lernorte eine immer größere Rolle spielen, auch wenn Schulen sich verändern. Solange das so ist, sollten wir so oft wie möglich unsere digitalen „Kulturzugangsgeräte“ nutzen, um die Welt-Erfahrung der Kinder und Jugendlichen so gut wie möglich zu machen. Wir sollten alles an digitalen Inhalten, das es uns ermöglicht, einer echten Umwelterfahrung so nah wie möglich zu kommen, für unsere Schüler bereit halten: Rezeption von Filmen, interaktiven Karten, Erklärvideos, Wikipedia- und allen anderen Online-Texten und -Medien, vor allem aber auch digitale Werkzeuge zur Produktion und Veröffentlichung von Inhalten in Blogs oder ePortfolios und natürlich digitale Mittel, um miteinander zu kooperieren und zu kollaborieren. Für die Schüler sind diese Medien Teil ihrer Wirklichkeit und sie eignen sich hervorragend um Wirklichkeit ganz anders und unmittelbarer zu ver-mitteln.

Wie Lisa Rosa sagt:

„Wer solchen Zugang zur Teilhabe am Dauergespräch der Kultur mit sich selbst nicht nutzt, obwohl er ihn hat, wählt die Unmündigkeit für die Kultur des 21. Jahrhunderts.“

Um Bob Blumes Fragen zu beantworten:

„Meine erste Frage lautet: Brauchen wir die Digitalisierung wirklich? Meine zweite Frage lautet: In welchem Umfang brauchen wir sie überhaupt? Meine dritte Frage lautet: Beschäftigen wir uns mit den falschen Themen?“

Der Einsatz digitaler Medien ermöglicht, erzwingt, erwartet Weltwahrnehmung, ohne aus dem Blick zu verlieren, dass Lehrkräfte„explizit […] machen, welche Lerneffekte sie beobachten und mit dem Einsatz bestimmter Methoden verstärken können.“ Wie die Referendarin Lotta klassisch formuliert: „Und soll Schule nicht an die Lebenswelt der Schüler anknüpfen?“ Die Frage schließlich, ob wir uns mit den falschen Themen beschäftigen, sollte vielleicht an die Lehrplanmacher gestellt werden…